Die letzte Schicht
Die letzte Schicht
Die Lichter der 'Alpha-Montagehalle' glimmten im gedämpften Neon, als Ben, ein erfahrener Maschinenschlosser, seine Brotdose öffnete. Seit zwanzig Jahren war diese Halle sein zweites Zuhause. Doch in den letzten Monaten hatte sich etwas verändert. Es war die stille Revolution, die sie die Industrie 4.0 nannten – die umfassende Digitalisierung und Vernetzung industrieller Prozesse.
Über ihm glitt "Aura 7", ein eleganter, kollaborativer Roboter (Cobot), leise an einer Schiene entlang. Aura 7 war das Herzstück der neuen Automatisierungstechnik im Werk, die Ben und seinen Kollegen die manuelle Arbeit im Zusammenhang mit der Steuerung und Überwachung von Systemen und Prozessen teilweise oder ganz abnahm. Der Roboter war nicht nur schneller und präziser; er lernte ständig dazu, angetrieben von einer zentralen Künstlichen Intelligenz (KI), die jeden Handgriff optimierte.
"Siehst du das, Ben?", fragte sein Vorarbeiter, Herr Gruber, mit einem schalen Lächeln und deutete auf den Cobot, der gerade mit beängstigender Präzision eine komplexe Schweißnaht setzte. "Keine Pausen, keine Fehler, keine Krankheitstage." Gruber erklärte, dass die KI zur Automatisierung wiederkehrender Aufgaben wie dieser eingesetzt werden konnte, wodurch menschliche Arbeitskräfte für komplexere Aufgaben frei würden – theoretisch.
Doch die Realität sah anders aus. Die "Alpha-Montagehalle" war das Pilotprojekt. Was als Effizienzsteigerung begann, entpuppte sich schnell als Rationalisierungswelle. Die KI war kein Jobkiller im herkömmlichen Sinne, aber sie veränderte die Anforderungen grundlegend. Ben, ein Meister der Mechanik, verstand die Algorithmen dahinter nicht. Er hatte immer auf sein handwerkliches Geschick vertraut, das plötzlich als veraltet galt.
Zwei Tage später, beim wöchentlichen Meeting, verkündete die Geschäftsführung die Umstrukturierung. Die überwiegende Mehrheit der Facharbeiterstellen in der Montage würde wegfallen. Die KI-Systeme seien effizient genug, um die Produktion alleine zu stemmen. Ben und seine Kollegen wurden vor die Wahl gestellt: Umschulung für die Überwachung der KI-Schnittstellen – eine völlig neue, abstrakte Welt für sie – oder die Kündigung.
Ben schaute auf seine Hände, gezeichnet von jahrzehntelanger Arbeit. Er wusste, dass die Digitalisierung der Arbeitswelt unvermeidlich war. Er würde die Umschulung annehmen, doch das vertraute Gefühl, etwas mit den eigenen Händen geschaffen zu haben, war verloren. Die letzte Schicht, wie er sie kannte, war vorüber. Die Maschinen liefen weiter, angetrieben von einem unsichtbaren Code, der keine menschliche Wärme oder Erfahrung mehr benötigte.
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