Der entfallene Winter

 

Der entfallene Winter

Es war der 12. Dezember, doch die Welt draußen sah eher nach goldenem Oktober aus. Leon war bereits um halb sieben wach und starrte ungläubig auf sein Wetter-Widget auf dem Handy: 14 Grad und Sonnenschein in Süddeutschland. Draußen zwitscherten die Vögel munter, als gäbe es kein Morgen.

Er zog sich widerwillig an und wählte zum Leidwesen seiner Weihnachtsstimmung ein T-Shirt und eine leichte Jacke anstelle seines geliebten Wollpullovers. Selbst der obligatorische Glühwein auf dem Weg zur Arbeit, den er sich fest vorgenommen hatte, fiel flach – bei diesen Temperaturen wirkte die klebrige, heiße Flüssigkeit einfach nur unpassend.

Beim Bäcker roch es nach frischen Brötchen und nicht nach Zimtsternen. Eine Frau in einem dünnen Mantel schimpfte über die globale Erwärmung, während sie einen Eiskaffee bestellte. Leon nickte nur stumm. Der Tag zog sich wie Kaugummi, jeder versuchte, die künstliche Weihnachtsmusik im Büro mit der Realität der offenen Fenster in Einklang zu bringen.

Nach Feierabend schlenderte er gedankenverloren durch die Stadt in der er arbeitete. Die Weihnachtsbeleuchtung glitzerte im milden Abendlicht, aber niemand trug eine Mütze oder Handschuhe. An einem Glühweinstand saßen ein paar Leute, die ihre Becher eher wie ein kühles Bier tranken. Die Atmosphäre war merkwürdig, eine Mischung aus Vorfreude und Irritation über das fehlende Wintergefühl.

Er kaufte noch schnell ein paar Lebensmittel ein und machte sich auf den Heimweg. Als er um die Ecke zu seinem zu Hause bog, sah er seinen Nachbarn, Herrn Müller, in kurzen Hosen und einem Weihnachtsmann-Oberteil vor seinem Haus stehen. Er war gerade dabei, seinen Rasen zu mähen.

"Fröhliche Nicht-Weihnachten!", rief Herr Müller ihm gut gelaunt zu, den Blick auf den saftigen, grünen Rasen gerichtet, der dringend einen Schnitt nötig hatte. "Bei dem Wetter muss man die Gunst der Stunde nutzen!"

Leon lächelte gequält zurück. "Guten Abend, Herr Müller."

Zu Hause angekommen, schaltete er alle Lichter in seiner Wohnung aus, ließ die Jalousien herunter und drehte die Heizung auf die höchste Stufe. Er zog seinen hässlichen Weihnachtspullover an, brühte sich einen extra heißen Tee auf und legte ein Album mit Weihnachtsliedern auf. Nur für einen Moment wollte er die Illusion eines kalten Dezembers aufrechterhalten, selbst wenn draußen die Grillen zirpten.

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